Leseprobe von
Krummer Wald
(Erzählungen 2023)
(ISBN 978-3-941072-29-9)
Buchgestaltung und Fotoessay
von Volker Blumenthaler
Bestellung über Kontakt.
mit Rechnung und portofrei
Hörprobe: Das Double, das Original
Hörprobe: Von der Hitze des Tages und der Nacht
Text
aus
Berlin, Jägerstrasse
23.5.2021
Diesmal wäre die Herkunft ihr Antrieb.
Nicht wie damals, als gerade diese ihr Leben am Gendarmenmarkt überschattete. Deren Schatten fast zu groß für ihre Träume waren. Die sie erst ganz akzeptierte, als sie zum Sterben darniederlag und endlich verstand, dass gerade die Herkunft ihr Kraftquell gewesen war.
Sollte sie sich erneut engagieren, diesmal für politische Macht? Zur Rettung der „deutschen Eiche“, zu deren Wächterin sie dann mit geworden wäre? Sie zu beschützen, zu erhalten, gegen Anfeindungen, die ihr Leben klimapolitisch schwer und irgendwann unmöglich machten?
Wollte sie gar ein wenig Bundeskanzlerin spielen?
In einer anderen, jungen, die Kraft und Ausdauer hatte. Bei der sie gastieren wollte wie eine, bei der es keine Miete braucht, weil sie Teil des Inventars ist. Die wieder ausziehen, verschwinden konnte. Froh, dass sie hatte helfen können.
Einmal mehr von der anderen Seite kommend, nicht von der Christlich Demokratischen Union, nicht von der SPD, aber von den Grünen. Die fern ihrer Gründungszeit agierten, regierungsfähig und bereit.
Wollte der möglichen jungen Kanzlerin helfen, nicht weit vom Gendarmenmarkt entfernt, mit Mitspielern und einer großen Chance. Die so groß war, dass ihr schauderte vor Angst und vor Freude. Ihr Vorhaben war obsessiv, aber wenn es der Rettung des Klimas diente? Ohne rassische Vorurteile, ohne Geldgier, ohne Ruhmsucht. Der Natur und den Menschen zugewandt.
Wie lange wollte sie damit noch warten? Bis zum Wahltag?
Sie hatte sich vor einigen Wochen entschieden. Ging aufs Ganze. Kanzleramt oder Rückzug für immer. Würde sich der Kanzlerkandidatin nicht aufdrängen. Sie sanft begleiten. Als unbekannte Freundin. Nicht als eine, die sich von hinten aufhuckt bei Nacht.
Ein Duo, von der die Eine nicht wusste, dass sie ein Teil der Anderen war. Gemeinsam waren sie stärker. Stärker am Ende vielleicht als CDU, CSU und SPD.
„Ich fühle mich stark. Habe mich am Gendarmenmarkt ausgeruht. Genieße gerade etwas Aufmerksamkeit zu meinem Jubiläum.
Ich will helfen.“
Was würde ihr Mann sagen? Er hatte sie stets unterstützt. Sie hatte Wilhelm und Alexander von Humboldt, Gäste ihres Salons, dazu gebeten, damit Umwelt und Klima eine letzte Chance bekamen und mit ihnen die vielen jungen Menschen, um die es ihr vor allem ging.
Die waren zwar verwöhnte Nutznießer der Unbedenklichkeit ihrer Vorfahren, doch hatten sie die Misere nicht herbeigeführt. Waren Nutznießer und Verurteilte zugleich. Zu einem langsamen und letztlich qualvollen Tod, den ihre Eltern, die Großeltern und viele andere vor ihnen eingeleitet hatten. Sie hatten verstanden, dass sie Macht brauchten, um den Irrsinn zu stoppen, die eigenen Lebensgrundlagen irreparabel zu zerstören.
Rund vier Monate vor der Wahl kam sie leise und unbemerkt, mit der Ruhe ihres Alters, ihrer Erfahrung. Und mit der Aufregung eines jungen Mädchens.