Stacks Image 8
Hier finden Sie eine kurze
Leseprobe von
Camilla auf meinen Füssen
(Erzählung 2017)
(ISBN 978-3-939939-03-0)

Buchgestaltung und Fotoessay
von Volker Blumenthaler





Hörprobe


55 Erzählungen, kurz, schnörkellos und auf den Punkt gebracht.
Geschichten über Musik, Malerei, Alltag, Lebenskrisen, Umbrüche,
Jugend, Alter, kurz gesagt, über uns. Otto Winzen hat Menschen in
den unterschiedlichsten Lebenslagen angetroffen. Als genauer Be-
obachter schildert er in seinen kurzen Erzählungen nicht nur, was er
gesehen und gehört hat, sondern schafft kleinformatige Wortbilder
mit Tiefenwirkung.
"Otto Winzens Figuren haben es nicht immer leicht. Nicht mit sich ...
nicht mit den Partnern in den
Mühen der Zweisamkeit und auch nicht
mit der raschelnden Konzertbesucherin beim Hören von Mahlers
Fünfter ... Doch liegt über allem ein Anflug von Selbstironie und Heiter-
keit. Kein Grund also zur Verzweiflung. Vielleicht kommt es ja nur auf
die Betrachtungsweise an. Otto Winzens pointierter wie tiefsinniger
Blick auf die Wirklichkeit lässt diese Möglichkeit allemal offen."
Bärbel Schwitzgebel, Rhein-Main-Presse

Text:

Der alte Fuchs

Er sprach an diesem Abend oft in Halbsätzen. Konnte es sich leisten,
wusste und genoss es.
Lehnte sich manchmal zurück, an die Lehne des Stuhls gedrückt,
neben seinem Lektor, den er freundlich gönnerhaft dirigierte, leicht
befehligte. Aber ganz freundschaftlich, ganz sanft, mit einem „der Herr
Doktor hat diesmal wieder“ oder „wie der Herr Doktor sagt."
Niemand würde ihm beikommen. War mit seinen siebenundachtzig
Jahren noch frisch, agil, geistig parat und dennoch im „Heiligen Land“
angekommen. Eine Instanz, die für sich sprach. Die man noch einmal
sehen, hören, erleben wollte. Wer weiß, vielleicht würde er das nächste
Jahr zur Buchmesse schon nicht mehr dabei sein. So hatte alles ein wenig
von Abschied, einer gegenseitigen Verbeugung von Autor und Publikum,
und das barocke Schlösschen im Park bot hierfür den perfekten Rahmen.
Nicht viele Zeugen passten in den Saal, etwas über hundert. Wer nicht
rechtzeitig seine Karte gekauft hatte, der blieb draußen. Die Anderen
aber durften sich wie Auserwählte fühlen, die Zeugen eines außer-
ordentlichen Vorgangs wurden, dem möglichen Abgang eines Monuments
der Literatur, und man wäre dabei gewesen.
Vielleicht residierte er jedoch auch im nächsten Jahr wieder in dem
kleinen Schloss. Wie stets, wenn er zur Buchmesse kam. Dies war sein
Ort, sein Schloss, er war der Hausherr, es war sein Empfangstag.
War kein Klopstock, der hier einst als Hauslehrer in einem Zimmerchen
hauste, hatte Macht, genoss sie.
Nach der Lesung spielten sich Lektor und Autor die Bälle zu, leichtfüßig,
elegant, ein richtiges Tiki-Taka, ein eingespieltes Team.
Der Autor genoss den Abend sichtlich. Hatte ein Heimspiel, war der
Trainer einer erfolgreichen Mannschaft, die ihn als einzigen Spieler
aufbot. War eine Marke, eine Weltmarke, hätte auch Bundespräsident
werden können. Doch dafür polarisierte er zu viel. Nein, das wäre doch
nicht gegangen. So beließ er es bei Halbsätzen, die sich die Zuhörer
bitte schön selbst ergänzen mochten, schließlich war er alt, musste
mit seiner Kraft haushalten. Und wer in Halbsätzen sprechen kann,
der hatte es geschafft. Er hatte es geschafft, sein Leben gemeistert.
Begleitete sich nun auf den letzten Metern, sah sich zu, lächelte sanft.
Und siehe, es ward gut.
Es wurde öfter gelacht an diesem Abend. Die Zeit der Kämpfe, der
Anklagen, der gegenseitigen Beschimpfungen lagen hinter ihm.
Er war zwar ein alter Autoreifen, hatte aber noch genug Profil.
Kam noch nicht auf die Halde, bestimmte allein über seinen Abgang,
würde ihn perfekt inszenieren.
Bot seinen Feinden keine Angriffsfläche mehr, war ein sympathischer
alter Herr, der Güte verströmte, den man mögen musste, der allen
Feinden signalisierte: „Haltet den Ball flach, ich habe bereits gewonnen.“
Sein Abgang nach dem herzlichen Applaus geriet ein wenig steif und vornübergebeugt. Da blitzte kurz das Alter auf. Verließ er für den
Moment die Schutzzone, die er geworden war, wenn er saß, sich
zurücklehnte, sein Publikum sanft tätschelte mit einer gütigen Hand.
Am Signiertisch saß er zum Schluss allein da.
Ganz für sich. Eine Sphinx, deren Gedanken man nicht lesen konnte
und die man, bitte sehr, auch nicht mehr stören wollte.


Doktor Tausendschön

Alle Mitarbeiter der Kieferorthopädiepraxis trugen perfekte weiße
Arbeitskleidung. Das ist zwar normal in Zahnarztpraxen, aber hier
schien es Maßkleidung zu sein, so unerreichbar perfekt schienen
ihr diese Menschen. Stets lächelnd, mit sehr weißen Zähnen. Doch
Dr. Tausendschön, der jung gebliebene, bald fünfzigjährige Chef
der Praxis, überstrahlte sie alle.
Er war Zenit und Kosmos der Praxis, umgeben von schönen, sehr
schlanken Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
„Alles ist hier so perfekt“, dachte sie, „ich fühle mich zu dick und
schmutzig, dabei komme ich doch gerade aus der Dusche.“
Wenn Dr. Tausendschön dann noch sein strahlendes Lächeln ver-
schenkte, fühlte sie sich wie eine Schülerin mit einer Zahnspange,
die gerade Mamis idealen Schwiegersohn anlächelte.
Wegen einer Zahnspange waren sie hier, der Sohn trug eine, und
es war nur ein schwacher Trost, dass er von seinem Behandlungsstuhl
aus in einen schönen Garten blicken durfte.
Stets musste etwas an der Spange nachgestellt werden, sie kamen oft,
und die jeweils zehn Minuten Behandlungszeit führten stets zu einer
Rechnung über dreihundertfünfzig Euro. Fast einen Meter lang war
wohl die Reihe der Spangen, die der Sohn im Laufe der Jahre einge-
passt bekam. Er würde den Garten zu allen Jahreszeiten kennenlernen.
Heute fühlte sie sich diesen schönen Menschen gegenüber besonders
im Nachteil, die hier zu Hause zu sein schienen. Sie selbst war schlank,
doch gegen diese weißgekleideten jungen Leute, die lautlos und
lächelnd durch die Räume glitten, als schwebten sie über dem Parkett,
fühlte sie sich dick. Nur Dr. Tausendschön war etwas älter als sie, aber
er bewohnte eine andere Welt.
Ein Zahn des Sohnes wuchs zu hoch aus dem Kiefer heraus und
musste gezähmt werden, eine Operation stand bevor. Dr. Tausendschön
lächelte. Warum er nicht schon vor drei Wochen davon gesprochen
habe, wollte sie wissen. Schließlich waren da gerade neue Röntgen-
aufnahmen gemacht worden. „Ich weiß das schon seit zwei Jahren“,
gab Dr. Tausendschön zur Antwort und lächelte.
Dennoch fiel ihr auf, dass alle nervös geworden waren, als das mit
dem wildwachsenden Zahn herauskam, nachdem sie die Ärzte erst auf
das Problem aufmerksam gemacht hatte.
„Hier stimmt etwas nicht“, dachte sie, „die kochen nur mit lauwarmem
Wasser.“ Dennoch beschloss sie, sich gleich eine neue weiße Hose zu
kaufen.

weitere Leseproben   Online-Buchbestellung